Donnerstag, 21. April 2011

Das chinesische Volk ist in Zeiten der höchsten Amoral angekommen?

Die Hongkonger Zeitung "Dongfang ribao" (Oriental Daily) hat vor ein paar Tagen einen Kommentar zum Stellenwert von Ethik und Moral in der chinesischen Gesellschaft veröffentlicht, der zwei Zeilen der Nationalhymne der VR China satirisch verballhornt. Aus "das chinesische Volk ist in der gefährlichsten Zeit angekommen, jedem Menschen wird der letzte Aufschrei abgerungen" wird in der Version der Oriental Daily "das chinesische Volk ist in einer Zeit der höchsten Amoral angekommen, jeder Mensch stößt einen Seufzer der Machtlosigkeit aus".

Der Kommentar prangert die bei uns teils bekannten, teils weniger bekannten Phänomene der Lebensmittelpanscherei, Schlamperei am Bau, der miesen Arbeitsbedingungen in Kohlegruben und Industrieanlagen, der Korruption und Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal anderer Menschen an. Den Mangel an ethischen Standards in der Gesellschaft sieht der Autor in der Korruption und Willkür der politischen Eliten begründet, also in der Kommunistischen Partei.

Nun trägt das System der Einparteien-Diktatur mit seinem Hang zur Korruption sicher zum Mangel an moralischem Verhalten in China bei, ist meiner Ansicht nach aber nicht der Hauptgrund für das moralische Vakuum, das in China immer stärker wahrgenommen und beklagt wird. Ob und in wie weit es im Westen besser um die Moral bestellt ist, lasse ich jetzt einmal beiseite. Hier soll es ausschließlich um China und die Gründe für seine moralische Misere gehen.

In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts konnte China sich noch als eine der zivilisiertesten, mächtigsten und wohlhabendsten Nationen der Welt fühlen. Wenige Jahre später jedoch, nach den Opiumkriegen, war es nur noch der "kranke Mann Asiens", Spielball der imperialen Interessen der westlichen Mächte, zerrissen durch Bürgerkriege, geschwächt durch Opium und weit verbreitete Armut. Seit dieser Zeit versucht China weniger, zum Westen aufzuschließen, als den eigenen Status einer Großmacht wieder zu erringen. Der erste Versuch in dieser Richtung war die sogenannte "Selbstärkungsbewegung" der 1860er und 1870er Jahre, die davon aus ging, dem Westen ethisch überlegen und nur technisch-materiell unterlegen zu sein. Folglich betrieb sie ihre Modernisierungsbemühungen unter dem Motto "das Chinesische als Wesenskern, das Westliche für die praktische Anwendung" und beschränkte sich auf die Übernahme westlicher Industrie und (Militär-)Technik, um China wieder "stark und mächtig" (fuqiang) zu machen.

An diesem Ziel hat sich bis heute nichts geändert, auch wenn in der Zwischenzeit die Mittel, mit denen man es zu erreichen versucht hat, immer wieder gewechselt haben. Und was hat man nicht alles an Ideen und Konzepten als untauglich, überflüssig und hinderlich über Bord geworfen: den Konfuzianismus und die gesamte chinesische Tradition, Republik und Demokratie, Liberalismus und Anarchismus, Militärdiktatur und diverse Spielarten des Marximus-Leninismus, zuletzt den guten alten Maoismus. Nur das Ziel ist geblieben: China muss wieder reich und mächtig werden. Aber reich woran und mächtig wozu? Nur damit China nicht wieder die erniedrigenden Erfahrungen der Kolonialzeit machen muss? Und welche ideellen Ziele bleiben denn noch übrig, nachdem China im Verlauf des letzten Jahrhunderts so ziemlich alle gesellschaftlichen, politischen, philosophischen und weltanschaulichen Modelle verschlissen hat?

"Es ist egal, ob eine Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache sie fängt Mäuse" hat Deng Xiaoping zu Beginn seiner Reform- und Öffnungspolitik als Motto ausgegeben. Er hatte dabei natürlich die Öffnung der marxistisch-leninistischen Volksrepublik für marktwirtschaftliche Methoden im Sinn. Aber der Satz trifft dennoch auch mitten in das Problem der moralischen Indifferenz des heutigen China: Alles ist erlaubt, alles ist möglich, wenn es nur dem Ziel dient, China wieder an die Spitze der internationalen Hackordnung zu führen. Und warum sollte das nicht auch für jeden Einzelnen gelten? Immerhin hat Deng Xiaoping ja auch die Parole ausgegeben: "Reich zu werden ist ruhmvoll". Und wenn im Reichtum an sich schon ein Wert liegt, dann braucht man sich auch nicht darüber zu wundern, wenn alle alles tun, um solchen zu erwerben: einschließlich des Streckens von Milchpulver durch Chemikalien, an denen dann Säuglinge sterben. Und diese Fixierung auf den materiellen Fortschritt ist eben nicht nur Sache der korrupten politischen Eliten, wie die Oriental Daily annimmt. Dass jeder sich selbst der Nächste sei ist Teil der Grundüberzeugungen vieler Chinesen. Und zwar so sehr, dass bei vielen Dissidenten geargwöhnt wird, hinter deren Engagement müsse noch ein selbstsüchtiges Motiv lauern. Denn ein Eintreten für Überzeugungen rein um der Überzeugung willen, erscheint vielen in China wohl undenkbar zu sein.

Im 12. Jahrhundert stritten die beiden konfuzianischen Gelehrten und Politiker Zhu Xi und Chen Liang über die richtige Politik angesichts der Bedrohung durch die Mongolen. Chen Liang, plädierte dafür, die ganzen ethischen Erwägungen, die für den Konfuzianismus sonst so typisch waren, aufzugeben und mit einer Politik militärischer und ökonomischer Stärke der mongolischen Gefahr zu begegnen. Dabei berief er sich auf die sogenannten Hegemonen aus der Zeit des Konfuzius, die das damals zersplitterte China militärisch geeint, gegen "barbarische" Invasionen erfolgreich verteidigt und damit Konfuzius' Lob errungen hatten. Zhu Xi hielt dagegen an der ethischen Fundierung von Politik fest. Die Erfolge der Machtpolitik der alten Hegemonen stellte er nicht in Abrede. Er wies aber darauf hin, dass diese Erfolge immer nur von kurzer Dauer waren, bis die machtgestützte Herrschaft der Hegemone wieder zusammenfiel. Diese Kurzlebigkeit der hegemonialen Politik führte Zhu Xi auf den Mangel an ethischer Orientierung zurück. Nur eine moralische Basis verleiht einer Politik (und einer Gesellschaft) Dauer und Beständigkeit.

Eine Statue des Konfuzius steht wieder auf dem Platz des himmlischen Friedens. Der Rückgriff auf die Lehren des alten Meisters im heutigen China erscheint aber oberflächlich und leer. Er ist kein ideelles Ziel, das den Machthabern in Peking wirklich am Herzen läge, sondern wiederum nur ein Mittel, mit dem man versucht, der Auswüchse der radikalen Modernisierung Herr zu werden. Und auch wenn das Interesse vieler Chinesen an Konfuzius in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat, scheint mir das nicht viel mehr zu sein, als eine Art nationaler Selbstvergewisserung. Man zieht zwar die konfuzianische Robe wieder an, aber es sieht wie eine Verkleidung aus.

Ich hoffe, dass es China gelingt, seine ethische Orientierung zurückzugewinnen. Ansonsten werden nicht nur die Chinesen wenig Freude an ihrem neuerlichen Aufstieg haben.

1 Kommentar:

  1. Sehr geehrter Herr Ebertshäuser,
    auch wenn dieser Blog leider nicht mit Kommentaren gesegnet ist: Leser hat er zum Beispiel mich :)
    Mit gefallen Ihre Texte und vor allem die konstruktive Perspektive auf ein so spannendes und irgendwie auch für uns ambivalentes Land.
    Weiter so, ich werde immer mal wieder vorbeischauen.

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